Der Stille einen Raum geben

dinajaraZazen-Erfahrung in italienischen Grundschulen: Die Stille ein aktives Zeichen in uns sein lassen.

Didaktisches Projekt von Dinajara Doju Freire.

Die Erfahrung der Stille, das Sitzen selbst, ist das Herzstück der Praxis der Zen-Mönche und -Nonnen. Die Überlieferung des Zen geht bis auf die Erfahrung Buddhas vor 2500 Jahren zurück. Buddha, der Erweckte, der in einem Zustand vollständiger Verwirklichung verweilte, gab die Überlieferung an Mahakashyapa, einen seiner zahllosen Schüler, weiter. Seither bewahren und übermitteln die Zen-Mönche die Körperhaltung dieser Praxis der Stille. Die von ihr ausgehende Wirkung erstreckt sich auf das tägliche Leben, auf Handlungen, Gesten, auf das Denken und das Sprechen.
Die Stille gehört weder einer Tradition noch einer Religion an. Sie ist der natürliche Ausdruck des Kosmos, eine allumfassende, transversale Grundform, die überall im Kosmos gegenwärtig ist : in Gesteinen, Pflanzen, Tieren und den Menschen aller Kulturen. Hat man dies verstanden, kann man sich der Praxis der Stille annähern, und, beispielsweise mit einem Zen-Mönch, praktizieren, ohne sich verpflichtet zu fühlen, die gleiche spirituelle Wahl wie dieser zu treffen.
Die Meister dieser Überlieferung werden nicht müde uns zu wiederholen, dass Zen Zazen ist und sich in Zazen zu setzen nichts weiter bedeutet, als ganz einfach hier und jetzt zu sitzen.

Die Stille von Zazen.

Wenn wir lange genug in einer korrekten Körperhaltung sitzen und uns nicht bewegen, können wir die Erfahrung eines tieferen Kontakts spüren, unsere Atmung wird ruhig und mit ihr unser Geist. Aus der Ruhe von Körper-Geist-Atmung taucht auf natürliche und spontane Weise die heitere Aufmerksamkeit auf, die beobachtet, teilnimmt und sich der Nicht-Getrenntheit der Erscheinungen gewahr wird.
Diese Öffnung erfüllt sich in der gesamten Komplexität unseres Seins, nicht nur durch den Geist, das Denken, den Intellekt oder die Vernunft.
Die Erfahrung der Stille läßt uns die natürliche Körperwirklichkeit spüren, so dass der Körper nicht mehr als von seinen zahlreichen Funktionen (physisch, geistig, psychologisch, empfindsam, sensorisch u.s.w.) getrennt erlebt wird. Vor allem lernen wir ein Ego kennen, das nicht mehr in seiner erhabenen, egozentrischen Position ist, sondern offen ist für den weiten Raum, für das Leben, das sich jenseits der Kategorien offenbart, das durch uns pulsiert, frisch und ständig erneuert und das sich fortwährend in Bewegung und Änderung befindet. Das Schweigen, die Unbeweglichkeit, das Anhalten des inneren Monologs, das ruhig werden der Atmung, die heitere Klarheit, die eine authentische entspannte Konzentration zum Ausdruck bringt, lassen uns verstehen, dass nicht wir die Stille erschaffen, sondern dass die Stille immer gegenwärtig ist und klar und deutlich zutage tritt, sobald wir nicht mehr diesem zwanghaften Drang, etwas zu tun, nachgeben.
Erfahren wir die Stille von Zazen regelmäßig, breitet sie sich in uns und auf unsere Handlungen aus. So beeinflusst sie unseren Alltag und unsere Umgebung, unsere Herangehensweise an die Herausforderungen des Lebens, sie bestimmt unseren Umgang mit Gefühlen, Grenzen und Schwierigkeiten. Es eröffnet sich uns eine Dimension, in der mehr Flexibilität, mehr Toleranz und mehr Entschlossenheit (ohne Starrheit) zirkulieren.
So können wir mit Gelassenheit handeln, bereit, auf alle Situationen des Lebens zu reagieren, offen für die anderen und das Hier und Jetzt.
Zen-Mönche und -Nonnen sind stets bereit, anderen ihre Praxis nahe zu bringen, ohne bekehren oder etwas aufzwingen zu wollen.
So entstand das Projekt « Die Stille erfahren » in einigen Grundschulen im Piemont, im Norden Italiens: Das tiefe Zuhören fördern, von Zazen aus, ohne dass man dazu gezwungenermaßen Buddhist(in) werden müßte.

Der Stille einen Raum geben, Zazen in den Schulen.
Einige Lehrerinnen suchten nach neuen Methoden, um den Kindern zu helfen und wandten sich an eine Zen-Nonne. Kinder sind heutzutage zwar intelligent und lernen sehr schnell, gleichzeitig sind sie äußerst empfindlich, unruhig und aggressiv. Ihre Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit nimmt ab; sie leiden und sind sehr unreif im Ausleben und Verarbeiten ihrer Gefühle.
Das Projekt « Der Stille einen Raum geben – Zazen in der Schule »entstand aus der Absicht, ein didaktisches Mittel anzubieten, das sowohl Kinder als auch Lehrkräfte ruhiger werden läßt und eine neue und kreative Situation im Schulalltag schafft.
Hauptanliegen war, den Kindern und Jugendlichen zu helfen, die Dimension der Stille besser kennen zu lernen. So entwickelte sich an einigen Schulen ein wahrer und tiefer Kontakt zwischen Lehrern, Schülern und der Zen-Nonne.
Aus der Liebe und Freude am Austausch dieser Erfahrung entstanden Begegnungen, bei der Schüler und Lehrer gemeinsam ihrem menschlichen Bedürfnis, der Stille zu lauschen, nachgaben, zwanglos und ohne besondere Erwartungen. In den Klassenzimmern teilten Lehrer und Schüler einige Augenblicke lang die Stille der Meditation, bis nach und nach das Interesse am Erlebten geweckt wurde. Die Jugendlichen, die Kinder und die Erwachsenen verstehen von selbst, wie wichtig es ist, einer Praxis, durch die man mit der Stille in Einklang kommt, Raum zu geben. Sie begreifen die Bedeutung von « in Kontakt kommen mit der allgegenwärtigen Stille, die wir sonst nicht in uns in Erscheinung treten lassen ».
Es geht nicht darum, in den Schulen eine Methode einzuführen, die an eine andere Religion gebunden ist. Das wäre ein Irrtum. Es handelt sich vielmehr um das Teilen eines Erlebnisses, bei dem alle praktizieren können. Sich ganz einfach nur in Stille hinsetzten, die Stille beobachten und nähren. Auf diese Weise erweitert sich der Kontakt mit den Schulen, Schüler und Lehrer freuen sich, miteinander in der Stille zu sitzen.

Seit 2003/2004 wird im Piemont (in der Provinz Cuneo und in anderen Regionen, z. B. im Aostatal oder in der Provinz Belluno) in mehreren Grundschulen dieses didaktische Schulprojekt umgesetzt.
Das Projekt untersucht das Zuhören als eine wichtige menschliche Fähigkeit. In allen Klassen wurden mit den Lehrern und der Zen-Nonne drei eineinhalbstündige Unterrichtseinheiten durchgeführt, bei der jede Gruppe Zazen und Kinhin (Gehen in Stille) praktizieren konnte und sich folgende Fragen stellen konnte :
•    Was ist die Stille ?
•    Wozu ist sie gut ?
•    Wo finden wir sie ?
Viele Lehrer (Katholiken oder Laien) beteiligen sich an dieser Initiative und mehrere hundert Schüler verschiedenen Alters profitieren schon von diesem Projekt und können in ihrem Alltag Zazen praktizieren.
Das mit den Lehrern festgelegte Ziel besteht nicht darin, auf « religiöser » Ebene zu intervenieren. Mit den Schülern über Buddhismus zu sprechen ist nicht das Ziel. Es wäre auch heikel, in einer multikulturellen Gesellschaft, eine solche Initiative zu ergreifen. Die Rolle der Erwachsenen, der Lehrer, der Erzieher und des Zen-Mönchs oder der Nonne ist es, den jungen Menschen zu helfen, die Unterschiede zwischen den Anschauungen zu erkennen und vor allem, sie zu respektieren, indem man sich des Reichtums ihrer Vielfältigkeit bewusst wird.
In der Hauptsache geht es darum, im schulischen Bereich die Entdeckung zu ermöglichen, dass nicht wir die Stille « machen », sondern dass die Stille ganz einfach als weiter und freier Raum existiert und sich in erster Linie dann in uns und durch uns offenbart, wenn wir aufhören « etwas zu tun ».
Das Projekt entwickelt sich in aller Einfachheit zur Unterstützung einer offenen pädagogischen Herangehensweise und hilft den Schülern und Lehrern, auf harmonische Weise mit dem inneren Raum in Berührung zu kommen, mit der wahren Dimension, die uns erlaubt, uns untereinander und mit unserem Umfeld zu harmonisieren. In der Stille, die jedem Wesen und jedem Ort innewohnt kann sich die Fähigkeit des tiefen Zuhörens auf natürliche Weise offenbaren. Jenseits von Worten und Vorstellungen geben wir der Stille und der Haltung Raum und lassen die Stille sich einrichten und ihre wohltuende Wirkung ausüben.
Es ist ergreifend und macht nachdenklich, zu sehen, mit welcher Tiefe Kinder und Lehrer dieser Erfahrung begegnen: Die Begegnung mit der Stille von Zazen und die Beobachtungen, die daraus hervorgehen fördern Toleranz und innere Aufnahmebereitschaft. So gibt Zazen den Mönchen und Nonnen eine gute Gelegenheit mit anderen Instanzen zusammenzuarbeiten und ihren Dienst anzubieten, aus Liebe und zum Wohl aller Wesen, um eine « wechselseitige » Erziehung zu ermöglichen, ohne einen Konflikt zwischen Laizität und Religiosität entstehen zu lassen.

Übersetzung: Eva Martinez
Überarbeitung: Vera Thöne

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